Wassermond-Sangha
Oeynhausen

Zen im Weg des Bogens

In dem Erleben von Form und Leere löst sich mein isoliertes ICH auf. Wenn ich die Einheit erfahre, brauche ich die Dualität nicht mehr.

Zen-Bogenschießen heißt, mich vollkommen in eine Handlung einzuüben, mich hinzugeben und meine Erfahrungen zuzulassen. Es gibt keinen Unterschied zwischen mir und der Handlung. „Sei Pfeil, sei Bogen, sei Ziel, so übten sich die alten Meister“

Es ist nicht leicht aus unseren Bildern, Geschichten und Konzepten auszusteigen und ganz in der gegenwärtigen Handlung zu sein. Unser Geist nimmt jede Möglichkeit wahr und setzt sich analysierend und diagnostizierend auf jede Erfahrung und Schwupps, sind wir nicht mehr im Erleben des gegenwärtigen Augenblicks. Wir kreieren ein neues Konzept, wir malen ein neues Bild, wir tauchen in unsere Illusionen und verabschieden uns aus der Wirklichkeit und dann wundern wir uns, wenn wir die Verbindung zu uns und allem um uns herum verlieren. Verbunden können wir nur sein, wenn wir im Jetzt und in der Wirklichkeit sind. Helfen kann uns dabei, wenn wir uns auf einen Weg gemacht haben, eine Übung, auf die wir uns mehr und mehr einlassen, in die wir uns hingeben können. ZaZen oder der Bogenweg kann zu einer solchen Übung für uns werden. Dies ist ein Weg, kein Ziel, weil wir immer schon da sind. Auf diesem Weg können wir Erkenntnisse und Wissen erlangen, aber es sind vor allem die Erfahrungen, die uns wachsen lassen. Manchmal können wir nicht mehr unterscheiden, ob wir etwas „nur“ wissen, nur erdacht haben oder ob wir tatsächlich etwas sind, etwas durchdrungen haben, eine ungeteilte Erfahrung haben, die weit über unser sprachliches Bewusstsein hinausgeht. Bei der Zen-Übung mit dem Bogen sehen und erleben wir unmittelbar, welche Auswirkungen unser Handeln hat. Wir können das Ergebnis unseres Tuns direkt auf der Zielscheibe ablesen. Wenn wir es zulassen, kann jeder abgeschossene Pfeil zu einer einzigartigen Erfahrung werden. Dies ist Weg und Ziel zugleich.

„Zen im Weg des Bogens“ nannte mein Zen- und Bogen-Meister KyuSei Roshi sein Buch über die von ihm entwickelte Bogenübung. Ich habe das Zen-Bogenschießen von ihm erlernt und widme ihm diesen Artikel in Dankbarkeit. Zen-Bogenschießen ist ein Weg. Das Ziel dieses Weges ist offen, er entsteht unter unseren Füßen, wenn wir ihn gehen. Wir können nicht am Ziel ankommen, weil wir immer schon da sind. Wir können, wenn wir uns auf diesen Weg einlassen, gleichzeitig Weite und Tiefe erfahren. Dies ist nicht immer angenehm oder gar erhebend, sondern manchmal auch schwer zu ertragen. Nicht immer erleben wir unser Wachstum als Gewinn; manchmal ist es enorm schmerzhaft, die alten Irrwege hinter uns zu lassen und selbst die offene Weite zu sein. Darum ist es auf jeden Fall hilfreich, diesen Weg mit einer Lehrerin oder einem Lehrer zu gehen. Diese Lehrer-Schüler-Beziehung ist im Zen sehr wesentlich;  sie sollte von Offenheit, Weite und Mitgefühl geprägt sein. Es darf ruhig einige Zeit dauern, bis man eine Lehrerin oder einen Lehrer findet, die/der zu einem passt. 

 

Der Weg,
heiteres Verweilen,
ohne dass wir einen Ort hätten
im Nirgendwo, der bliebe.

 

 

In der Handlung des Schießens erleben wir die große Chance auf ein Feedback, das uns spiegelt, ob wir in unserer Entwicklung wirklich schon so weit sind, wie wir uns ausgedacht haben. Dabei ist es nicht relevant wie „gut“ wir treffen. Es geht vielmehr darum, ob wir in der Übung von Beginn bis zum Ende unsere Präsenz halten können. Ob wir den Aufbau der Spannung mit der gleichen Präsenz erfahren, wie das Lösen und den Abfall der Spannung. Ob wir uns in der Spannung so akzeptieren wie in der Entspannung. Ob wir unsere Urteile, den Neid, die Eifersucht, die Langeweile, den Ärger und die Freude und Liebe, die wir erfahren, gleich gültig sein lassen können. Ob wir uns dem Weg hingeben oder bei einem Schuss, der nicht unseren Erfahrungen entspricht, flüchten und aus unserer Wut nicht mehr herausfinden.  

Beim Umgang mit meiner Wut geht es in keinem Fall darum, sie zu verdrängen, sondern ihre unglaubliche Energie wahrzunehmen und gleichzeitig dem Wunsch, sie auszuagieren stand zu halten. Ich habe die Wahl, wie ich agiere und ich bin mir bewusst darüber, dass das ausleben von Wut weiteres Unheil in die Welt bringt. Gelingt uns das Innehalten, können wir die Lebensenergie wahrnehmen und dieser Lebensenergie Raum verschaffen, ohne zerstörerisch zu agieren.

Im Moment des Schießens trägt nichts mehr die Bürde meiner Bewertungen. Bin ich ganz und gar im Augenblick - dann gibt es den Augenblick nicht mehr. Ich bin die Übung und zwar so, wie sie sich in diesem einzigartigen Jetzt zeigt. Jeder Schuss ist vollständiger Ausdruck meiner Wirklichkeit. 

In meinem Garten steht eine Zielscheibe, vor der ich übe. Wenn die Pfeile in den Schaumstoff eindringen, macht es leise Paff. Manchmal gelingt es mir nicht, die doch relativ große Scheibe zu treffen und der Pfeil trifft auf die Holzwand hinter der Scheibe. Der Ton, der dann erklingt, ist ein lautes Tock. Dieses Tock ist ein wunderbarer Wecker. Ich erinnere mich dann an KyuSei Roshi. Hinter das Sprichwort: „Ein Pfeil ins Schwarze ist das Ergebnis von hundert Fehlschüssen“ schrieb er „Hundert Schüsse - wo ist da ein Fehlschuss?“ So werde ich bei jedem Tock zurückgeführt. Es trifft mich in meiner Mitte und macht mich wach für den Moment. Aber ich darf dieses Tock nicht zu einem Konzept machen. Es lässt sich nicht beschreiben. Es lässt sich aber erfahren. Zu dieser Erfahrung ist das Bogenschießen eine Einladung.

Wenn ich immer auf die Leichtigkeit schaue, wird das Schwere übergroß. Leichtigkeit und Schwere sind zwei Pole; sie sind Teil meiner Wirklichkeit, die ich im Hier und Jetzt erfahre. Diese Wirklichkeit erfahre ich, wenn ich sie zulasse und die Widerstände, die mich in die Illusion schicken, fallen lasse. Ich höre auf mit meinem Wollen ohne zu resignieren, ich bleibe zielgerichtet und klar, ohne am Ziel festzuhalten. Ich höre auf, die anderen ändern zu wollen, bin integrierter und unauftrennbarer Teil der Wirklichkeit und kann mich der immerwährenden Veränderung hingeben. Ich lasse los und lasse zu. Das Bild, das wir über und von uns haben, ist nicht unser lebendiges Sein, ganz gleich wie schön es ist, es ist nur ein Bild. Egal wie schmerzhaft es ist, unsere Schattenseiten zu erkennen, wir werden sie nicht los, indem wir sie verdrängen, sondern sie werden größer, wenn wir es nicht schaffen, sie zu integrieren, als zu uns gehörig zu akzeptieren. Wir müssen das Bild, das wir von uns gemalt haben, als Bild erkennen und akzeptieren, dass es zu uns gehört. Wir können dann erkennen, dass weder das Bild noch unser konstruiertes ICH die ganze Wirklichkeit sind. Die ganze Wirklichkeit ist erfahrbar, auch wenn sich dieses mit unserem sprachlichem Bewusstsein nicht hinlänglich ausdrücken lässt. Die Kunst besteht darin, sich weder in das Bild zu verlieben noch es hassend ständig auf seine Mängel zu überprüfen. Wir sind frei und dürfen uns verändern, wir dürfen wachsen, die Fokussierung auf das Bild hält uns vom Leben fern.

Mit der Bogen-Übung, mit dem Zen-Bogen-Schießen haben wir die Möglichkeit, uns im reinen Sein aufzuhalten. Dieses Sein, diese Möglichkeit, steht für uns von Moment zu Moment zur Verfügung, sie ist kein Ort, an den ich gelangen kann und dann dort verweile. Uns zu üben, etwas zu tun, ohne es oder uns oder sonst noch etwas zu beurteilen, zu tadeln oder zu vergleichen, ist schon die ganze Übung. Kommt Eifer auf, nehmen wir den Eifer wahr ohne Urteil ohne Neid, ohne besser oder schlechter. Einfach und vollkommen in der Übung sein und unser Herz für den Moment zu öffnen. Dann erleben wir vielleicht einen Augenblick des Friedens. Dann ist der Augenblick vorbei und wir setzen unsere Übung einfach dort fort, wo wir jetzt sind. Wenn Angst in uns hochsteigt, vielleicht die sehr existentielle Angst, dass wir den Sinn unseres Lebens nicht finden, begegnen wir der Angst mit mitfühlender Achtsamkeit und können erkennen: Jeder gelebte Moment ist bereits der Sinn. Wenn wir ohne Urteil auf unser Leben schauen, sehen wir unseren Sinn klar und deutlich vor uns.

Vertrauen heißt Vertrauen ins Ungewisse. Zen baut auf dieses Vertrauen. Auf den Sprung ins Leben ohne Netz und doppelten Boden. Vertrauen heißt die Versicherung durch das Denken loszulassen. Welch eine Herausforderung!

Ich bin in meinem Leben angekommen, ich bin dort zu Hause, wo ich mich gerade befinde. Ich bin geliebt und lasse liebend los. Fließt der Fluss des Lebens nach links, finde ich mich links, fließt er nach rechts, bin ich rechts zu Hause. Habe ich Hunger, esse ich, bin ich müde, schlafe ich. 

Kurt DaiHiDo Südmersen