- Sutra über die allumfassende Liebe -
Mögen alle Wesen glücklich und wohlbehalten sein.
Mögen ihre Herzen von Freude erfüllt sein.
Mögen sie alle in Sicherheit und Frieden leben,
ob sie nun schwach sind oder stark, lang oder kurz, groß oder klein,
sichtbar oder unsichtbar, nah oder fern, bereits geboren oder noch nicht geboren.
Mögen sie alle in vollkommener Gelassenheit weilen.
Kein Wesen verletze je ein anderes, noch gefährde es das Leben eines anderen;
kein Wesen wünsche einem anderen aus Ärger oder Übelwollen je Kummer oder Leid.
Mögen wir grenzenlose, allumfassende Liebe für alle Lebewesen entwickeln,
wo immer sie sich auch befinden. Unsere grenzenlose Liebe möge das ganze Universum durchdringen, nach oben, nach unten und überall hin. Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen und unsere Herzen werden vollkommen frei von Hass und Feindseligkeit sein. Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen — solange wir wach sind, mögen wir diese liebende Achtsamkeit in unseren Herzen bewahren.
Wie ist es möglich, das zu erreichen?
Gar nicht!?
Es ist ein Wunsch, eine Sehnsucht vielleicht, die uns eine ethische Richtung aufzeigt, aber kein festgelegtes Ziel. Solange ich diese Form habe, begegnen mir Gefühle und Bedürfnisse. Ich werde Ablehnung erfahren und ablehnen. Ich werde Verrat erleben und Verletzung. Ich werde mit Wünschen anderer konfrontiert und habe Wünsche an andere, deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung ich mehr oder weniger gelassen betrachten kann. Hieraus kann Hass und Gier entstehen; das führt zu Leid.
Wenn ich mich darin üben will, dies alles mit mehr und mehr Gelassenheit zu betrachten, ist es hilfreich zu erkennen oder zu erwachen, wie es im Zen heißt.
Um eine klare Erkenntnis formulieren zu können, muss ich alle Wesen und Dinge mit liebevollen Augen betrachten und das gelingt mir nur, wenn ich mich, auch in den dunklen Ecken meines Selbst, liebevoll betrachte. Liebevolles Verstehen heißt nicht einverstanden sein.
Was wir genaugenommen tun wenn wir ZaZen üben:
–Das achtsame, absichtslose, heitere Gewahrsein -
ist ein Loslassen des Denkens, das abstrakte Denkmodelle verdinglicht und für wirklich hält. Uchiyama Roshi weist in „Weg ohne Wahl“ darauf hin, dass wenn wir Zazen üben, das eigentliche Leben leben, in dem das Einssein des Selbst und der Welt unsere eigene Lebenserfahrung ist. Dies ist das Selbst, auch wenn wir unser Ichbewusstsein los lassen. Wir glauben unserem Alltagsbewusstsein, das konstatiert, dass wir nur existieren, weil wir unserer Selbst bewusst sind.
In Wirklichkeit existiert das Selbst aber sogar, wenn wir das Sich-seiner-selbst-bewusste-Sein loslassen. Wir können dies vielleicht das reine oder wahre Selbst nennen. Es ist das vom Ichbewusstsein gelöste Selbst, das übrigbleibt, wenn wir Zazen üben. Es erscheint nur dann das wahre Selbst, wenn wir das Denken loslassen.
Zazen üben bedeutet dieses Loslassen und Erfahren einfach nur zu leben. Somit sind, während wir Zazen üben, das Selbst, das die Lebenserfahrung lebt (Geist), und die Welt, die als Lebenserfahrung gelebt wird (Dharma), nicht zwei sondern eins. Das, was wir beim Zazen im aller besten Fall erfahren, ist diese absolute EINE Wirklichkeit vor jeder Unterscheidung. Das ist der eine Moment, in dem unsere grenzenlose Liebe das ganze Universum durchdringt.
Dazu kann die folgende Übung einen wichtigen Beitrag leisten. Rezitiere die folgenden Sätze:
„Möge ich frei vom Leiden sein.
Möge mein Körper gesund und sicher sein.
Möge mein Geist friedlich und in Harmonie mit allem sein.
Möge ich glücklich sein.“
Dies ist ein Teil des Metta Sutra, das ich nutzen kann, um meine Haltung zu entwickeln und zu stabilisieren. Ich entwickele damit meine Herzenswärme. Die Voraussetzung, um allen Wesen in Liebe zu begegnen. Wenn ich mit Herzenswärme erfüllt bin, begegne ich zwangsläufig auch allem, was mir begegnet mit dieser Herzenswärme.
Wenn ich etwas für mich tue, tue ich das für alle Wesen.
Wenn ich etwas für andere tue, tue ich das für mich.
Und jetzt taucht unser Ichbewusstsein aus der Versenkung auf und will Belohnung für „sein“ Engagement in der Form, dass sich die anderen auch besser benehmen oder sich zumindest besser fühlen, wenn ich mir schon so viel Mühe gebe. Dann sitzen wir wieder in der Egofalle und haben uns selbst zurückgeworfen in die Dualität.
Möge ich mit Herzenswärme erfüllt sein.
Möge ich gesund sein.
Möge ich mich friedlich und gelassen fühlen.
Möge ich glücklich sein.
Diese Meditation ist eine zweieinhalbtausend Jahre alte Übung, in der Formulierungen, Imaginationen und Gefühle eingesetzt werden, um Herzenswärme und Freundlichkeit mir selbst und anderen gegenüber anzuregen. Du kannst mit dieser Übung experimentieren und feststellen, ob sie brauchbar für dich ist. Am besten beginnst du damit, sie ein paar Monate lang einmal oder zweimal täglich fünfzehn bis zwanzig Minuten lang zu wiederholen.
Am Anfang empfindest du diese Übung vielleicht als mechanisch oder irgendwie peinlich oder sie führt sogar gerade zum Gegenteil dessen, was du damit bezweckst. Du aktivierst möglicherweise Gefühle der Irritation und des Ärgers. Wenn das geschieht, ist es ganz besonders wichtig, dass du geduldig und freundlich zu dir selbst bist und alles, was aufsteigt, in einer liebevollen Weise annimmst. Das bedeutet, wir sind weder in der Rebellion noch in der Unterwerfung noch in der Verdrängung.
Die Herzenswärme wird sich mit Sicherheit entfalten, auch dann, wenn wir erst einmal innere Schwierigkeiten überwinden müssen.Lass deinen Geist ruhen, so gut es geht; lass alle Pläne los und alles, womit du dich innerlich beschäftigst. Lass das Konzeptdenken los und rezitiere im Stillen die folgenden Sätze, die du an dich selbst richtest:
„Möge ich frei vom Leiden sein.
Möge mein Körper gesund und sicher sein.
Möge mein Geist friedlich und in Harmonie mit allem sein.
Möge ich glücklich sein.“
- Was bedeutet es für dich frei vom Leiden zu sein? -
Kannst du einen Unterschied machen zwischen Schmerz und Leiden? Zwischen Verletzungen, Krankheit und Leiden? Schmerz empfinden wir, wenn wir auf irgendeine Weise mit unserer Begrenzung konfrontiert sind und die Begrenzung unserer Form ist offensichtlich und unausweichlich. Wir alle unterliegen Krankheiten, wir alle altern und werden irgendwann sterben, wir alle sind schon einmal verraten worden, beleidigt, gedemütigt, und diskriminiert. Physischer und psychischer Schmerz gehört also unausweichlich zu unserem Leben dazu. Leiden entsteht, wenn wir Widerstand gegen unsere Wirklichkeit entwickeln. Wenn wir also unsere Begrenzung leugnen und verdrängen oder ähnliches. Leiden ist also etwas, das wir selbst kreieren.
- Möge mein Körper gesund und sicher sein... -
...heißt es weiter. Wir alle haben schon einmal Verletzungen unseres Körpers oder unseres Geistes erlebt. Welche Schlüsse hast du daraus gezogen? Kannst du dich liebevoll um deine Verletzungen kümmern oder verharrst du in der Opferrolle, indem du dich beschwerst und nach den Schuldigen suchst? Die Opferrolle ist in jedem Fall die Alternative zu einem liebevollen Kümmern um eine Verletzung. Wenn mir einer einen Pfeil in die Brust schießt hat es keinen Sinn den Schützen anzuschreien, auch wenn das das erste ist, was mir einfällt. Liebevolles Kümmern heißt ich erkenne meine Wirklichkeit an. Ich bin verletzt. Und dann kümmere ich mich um meine Wunde.
„Möge mein Geist friedlich und in Harmonie mit allem sein.“
Hast du schon einmal Frieden erlebt? Was tust du dafür, dass dein Geist in Frieden leben kann? Den Weg des Zazen gehen ist so ein Kümmern. Ich nehme mir jeden Tag eine Zeit, die nur mir gehört und kümmere mich in liebevoller Zugewandtheit um meine Verletzungen, ohne in die Opferrolle zu gehen. Ich erkenne an, dass ich die Zeit dafür habe, wenn ich sie mir nehme. Das größte Geschenk habe ich schon bekommen, es ist dieses Leben.
„Möge ich glücklich sein.“
Was bedeutet es für dich glücklich zu sein? Kannst du dich erinnern, wann du das letzte Mal glücklich warst? Wenn du denkst, wenn das nicht wäre oder wenn ich das hätte, dann könnte ich glücklich sein, machst du dich abhängig von äußeren Bedingungen und du verlegst dein Glück auf die Zukunft. Wenn wir genau hinschauen sind wir dann glücklich, wenn wir vollständig in der Gegenwart sind. Ein glückliches Leben zeichnet sich nicht dadurch aus, das ein Glücksmoment sich an den anderen reiht, sondern dadurch, dass wir Glücksmomente gleichermaßen wie Niederlagen, Verrat und Scheitern integrieren können und anerkennen, dass dies alles zu unserem Leben dazu gehört.
„Wir sind nicht dankbar, weil wir glücklich sind, sondern erleben Glück, weil wir dankbar sind.“
(David Steindl-Rast)
Während du das Sutra rezitierst, kannst du auch Bilder verwenden: Denke an dich selbst als ein geliebtes Kind oder als die Person, die du jetzt bist, geborgen in einem Herzen voller Liebe. Verbinde die Worte mit diesen Bildern, so dass du genau jene Sätze findest, die am besten geeignet sind, dein liebevolles Herz zu öffnen. Wiederhole die Sätze immer wieder, und lass deinen Körper und deinen Geist ganz und gar von dem Gefühl, das du wachrufst, durchdringen.
Du kannst dabei eine Hand auf dein Herz legen und dir dankbar vorstellen, wie dein Herz für dich arbeitet. Stell dir vor wie in deinem Herzen die Sonne aufgeht und ihre wärmenden Strahlen deinen gesamten Körper durchdringen. Wie es deinen Körper mit frischem Sauerstoff versorgt. Dein Herz hat ein autonomes Nervensystem, das mit deinem gesamten Körper verbunden ist und sensibel auf alles reagiert, was dein Körper ihm mitteilt. Wende dich liebevoll und wohlwollend diesem Herzen zu und danke ihm, dass es dich mit Wärme erfüllt.
Wenn du die Erfahrung gemacht hast, dass diese Herzenswärme dich ausfüllt – und wir alle haben diese Erfahrung schon einmal gemacht - geht es nicht darum, für immer an diesem Ort zu sein, sondern uns zu erinnern, dass wir diese Erfahrungen haben und einen Zugang kennen. Erst jetzt sind wir in der Lage, anderen Menschen bewusst mit diesem Gefühl liebevoller Güte entgegen zu gehen und unsere Liebe zu verschenken.
Nach einiger Zeit kannst du also, wenn du dich dazu bereit und fähig fühlst, nach und nach deine Herzenswärme auch auf andere ausdehnen. Wähle zuerst eine Person, die dir sehr zugetan ist und viel Gutes für dich getan hat. Stelle dir diese Person vor und rezitiere wieder dieselben Sätze:
„Möge sie frei vom Leiden sein.
Möge sie gesund und sicher sein.
Möge ihr Geist friedlich und in Harmonie mit allem sein.
Möge sie glücklich sein.“
Wenn sich die Herzenswärme für diejenigen entfaltet hat, denen du besonders viel verdankst, beziehe weitere Menschen, die du liebst, in derselben Weise in deine Meditation mit ein. Kehre zwischendurch immer wieder zu dir selbst zurück und mache dir klar, ob du noch mit dir verbunden bist und ob du dich selbst noch mit liebender Güte sehen kannst. Danach kannst du Schritt für Schritt andere einbeziehen: Freunde, Familienmitglieder, Nachbarn, die Menschen in aller Welt, Tiere, die ganze Erde und alle Wesen. Und schließlich kannst du damit experimentieren, diejenigen Menschen einzubeziehen, mit denen du die größten Schwierigkeiten hast, und wünschen, dass auch sie mit Herzenswärme und Frieden erfüllt sein mögen. Mit einiger Übung kann sich ein beständiges Gefühl der Herzenswärme entwickeln; dann wirst du in der Lage sein, im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Minuten viele Wesen in deine Meditation einzubeziehen, angefangen bei dir selbst, über deine Wohltäter und die Menschen, die du liebst, bis zu allen Wesen.
Du kannst lernen, diese Meditation überall zu praktizieren: im Stau, im Bus, im Flugzeug, im Wartezimmer des Arztes und bei allen möglichen anderen Gelegenheiten. Wenn du die Meditation der Herzenswärme im Beisein anderer Menschen praktizierst, wirst du eine innige Verbindung mit ihnen fühlen - das ist die Kraft der Herzenswärme. Sie wird sich beruhigend auf dein Leben auswirken und dafür sorgen, dass du in Verbindung mit deinem Herzen bleibst. Aber achte darauf, dass es nicht zu einer gefühllosen Routine wird. Bleib unbedingt in der lebendigen Beziehung zu deinem Herzen.
„Mögen auch meine Feinde frei vom Leiden sein,
mögen sie gesund und sicher sein,
mögen sie glücklich sein.
Mögen alle Wesen frei vom Leiden sein.
Mögen sie gesund und sicher sein.
Möge ihr Geist friedlich und in Harmonie mit allem sein,
mögen alle Wesen glücklich sein.“
DaiHiDo