Dankbarkeit ist eine tägliche Praxis, die uns hilft, zu erkennen, wie stark wir mit andern verbunden sind. Jedes Leben ist Entstehen in Abhängigkeit.Wann haben Sie das letzte Mal tiefe Dankbarkeit erlebt, empfunden oder noch besser gesagt geübt?
Dankbarkeit ist aus der Perspektive des Zen eine Übung, die besser wird wenn wir sie häufig exerzieren.Wie geht es ihnen jetzt in diesem Moment, wenn Sie an eine Situation zurückdenken, in der Sie dankbar waren? Versuchen Sie bitte bei diesem Gefühl zu bleiben und nicht in die äußeren Bedingungen der Geschichte abzutauchen. Wir verlieren uns leicht, wenn wir unseren Interpretationen und Geschichten folgen. Sie führen uns weg von dem authentischen Gefühl von Dankbarkeit. Es geht um das Gefühl Dankbarkeit. Wo genau spüren Sie Dankbarkeit? Welche Emotionen werden noch ausgelöst? Welche Gedanken steigen jetzt in Ihnen auf? Welche Bedürfnisse wurden Ihnen in der Situation genährt? Welche Bedürfnisse sind berührt, wenn Sie sich heute mit dieser Situation verbinden? Lassen Sie sich einen Moment Zeit, um genau hinzuspüren. Welche Sehnsucht taucht in ihnen auf?
Wenn ich im Zen einen Weg gehe, den des Tees, des Blumensteckens, den Weg des Bogens oder den Weg der Dankbarkeit, mache ich mit dieser Wahl deutlich, dass es sich nicht nur um eine Kunst handelt, deren Vervollkommnung immerwährendes Üben bedeutet, sondern darüber hinaus wird dieses Üben auf elementare Weise mit meinem Sein verbunden. Ich gehe den Weg nicht, sondern werde Weg. Ich habe dazu ein Gedicht geschrieben:
Wenn wir den Ratgebern folgen, seien sie nun wissenschaftlich begründet, empirisch belegt, oder esoterisch ausgerichtet, finden wir überall eine Aussage wieder: Das es das Beste für uns und alle anderen ist, wenn wir Dankbarkeit üben. Wir werden glücklicher und beliebter. Warum tun wir’s dann nicht?
Dankbarkeit hat mit unserem Willen, unseren Entscheidungen, unserer Einstellung zum Leben zu tun.
Was sagen Ihre Analysen, Ihre kognitiven Einordnungen über die Situation, die Sie sich eben ins Bewusstsein gerufen haben? Dankbarkeit hat auch mit unserem Intellekt zu tun.
Wenn wir also über Dankbarkeit sprechen, sprechen wir immer über unseren Willen, unsere Haltung und unseren Intellekt.
Als kleiner Junge wurde ich des Öfteren von meinen Eltern aufgefordert, mich dankbar zu zeigen: „Geh zu Onkel Klaus und gib ihm das liebe Händchen. Sag danke und mach einen Diener!“ So lautete die Ansage, der ich nicht widersprechen durfte. Es sei denn, ich hätte ein kleines Familiendrama provozieren wollen. Onkel Klaus war mein Taufparte, er hatte sich als Tischler ein Stück von seinem Daumen abgesägt und wenn ich ihm die Hand gab, wusste ich er würde mir seinen Daumenstumpf so lange in den Handrücken bohren, bis ich aufjaulte und mir Tränen in die Augen schossen. Für ihn war das lustig. Ich lernte auf diesem Wege Dankbarkeit mit Schmerz und Verpflichtung zu vergiften. Erst viel später erfuhr ich, dass Onkel Klaus viele Jahre in einem Lager für Kriegsgefangene leben musste, in dem er durch Hunger und ständige Todesangst tief verletzt wurde; offensichtlich hatte er die Fähigkeit Dankbarkeit anzunehmen, sich berühren zu lassen und Nähe entstehen zu lassen verloren. Er hatte das Vertrauen in die Menschen verloren, ohne dass Dankbarkeit nicht möglich ist.
Der Legende nach kam eine Mutter mit einem todkranken Kind zu Siddharta Gautama, dem historischen Buddha, und bat ihn ihr Kind zu retten. Buddha antwortete ihr, ihr Kind könne gerettet werden, wenn sie in ihrem Dorf eine Familie fände, in der es keine schmerzhaften Erfahrungen und keinen Tod gäbe. Die Mutter machte sich eilens auf den Weg und lief von Haus zu Haus, um eine solche Familie zu finden, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte ihr Kind nicht retten, es starb. Durch die Erfahrung, dass Schmerz ein Phänomen ist, das allen Menschen begegnet, konnte die Mutter den Tod ihres Kindes betrauern und es in einem Wald beisetzen, so die Geschichte.
Wie können wir dankbar sein in schwierigen und schmerzhaften Situationen?
Manchmal glauben wir, weil wir verletzlich sind, weil wir begrenzt und sterblich sind, hätten wir keinen Grund zur Dankbarkeit. Oder dass Dankbarkeit als Haltung gegenüber der Wirklichkeit unseres Lebens nicht angemessen sei, weil wir so begrenzt sind. Wir vergessen, dass unser Sein ein einzigartiges Ereignis ist und dass die allermeisten Faktoren, die zum Beispiel dazu beigetragen haben, dass wir uns heute hier treffen, nicht von uns beeinflussbar sind. Mit anderen Worten, es wurde uns gegeben. Augustinus sagt: "Alles ist Gnade." Unser Ego verstellt uns den Weg zur Dankbarkeit mit seinen Ansprüchen, es redet uns ein, wir hätten etwas verdient, uns stände etwas zu. Das lässt die Übung der Dankbarkeit ersticken. Sicherlich haben viele von uns Erfahrungen, die dazu beitragen, dass Dankbarkeit vergiftet wird. Nicht zuletzt trägt paradoxerweise materieller Wohlstand häufig zur Vergiftung der Dankbarkeit bei, weil er bei vielen von uns Angst vor Verlust auslöst und wenn wir Angst haben, ist es schwer dankbar zu sein.
Wir können die Vergiftung der Dankbarkeit überwinden. Und zwar durch Selbsterforschung und Meditation, die die Voraussetzungen für Selbsterkenntnis sind. Damit können wir zu unserer geistigen Immunität beitragen. (Der Begriff geistige Immunität stammt von Erzbischof Desmond Tutu.) Eingeübte geistige Immunität ermöglicht es uns, leichter destruktive, geistige Phänomene und Prozesse einzudämmen. Wenn wir diese Fähigkeiten sehr weit entwickelt haben, werden wir zu Heiligen, zu erwachten Wesen. Ich finde, das ist eine durchaus erstrebenswerte Haltung, die all unsere Anstrengungen lohnt.
Ich kann Verletzlichkeit und Schmerz nicht aus der Welt schaffen. Ich kann aber dennoch meiner Sehnsucht, glücklich zu sein und Leid zu überwinden, treu bleiben. Ich lebe dann in einer Welt des Sowohl - als auch anstelle des Entweder - oder.
Wofür bin ich dankbar? Für die Erkenntnis, dass ich etwas tun kann für das Glück anderer und für mein eigenes, nämlich Dankbarkeit zu praktizieren. Hier begegnet mir Dankbarkeit als eine bewusste Entscheidung, eine Haltung in Bezug zu meiner Lebenswirklichkeit.
In einigen Meditationsschulen wird Dankbarkeit gegen über allen Wesen und Dingen systematisch eingeübt. Bei manchen Wesen und Dingen ist die Herausforderung größer als bei anderen und es ist immer eine Übung, in der ich scheitern kann und auch tatsächlich scheitere. In der ich aber auch wachse, wenn ich sie als Aufgabe annehme. In meiner alltäglichen Arbeit im Konfliktmanagement erlebe ich, dass die größte Hürde darin besteht, mich selbst wohlwollend und mit Freundlichkeit anzusehen.
Gleichzeitig wissen wir, dass es eine Bedingung ist, um andere freundlich zu betrachten und Dankbarkeit zu entwickeln.
Die drei Juwelen der Buddhistischen Lehre können mich bei der Entwicklung von Dankbarkeit unterstützen.
Das erste Juwel ist Buddha als ein Lehrer und Vorbild, der es geschafft hat, Heilsames zu bewirken und Unheilsames zu lassen. Vorbild heißt, ich versuche ihm nachzueifern. Mit der Idee des Buddha verehre ich alle Buddhas, die gelebt haben und die zurzeit leben. Ich verehre auch alle meine Lehrer, die mich auf meinem Weg unterstützen. Bei tiefem, bewusstem Hinschauen sind das alle Wesen, die es gibt. Alle Wesen können meine Lehrer sein. Nach der Lehre des Zen-Buddhismus sind alle Wesen Buddha-Natur. Das erste Juwel, das meine Dankbarkeitsübung unterstützt, ist also Buddha in dem eben beschriebenen Verständnis. Ich lebe in der Anerkennung meiner wechselseitigen Abhängigkeit zu allem, was lebt.
Das zweite Juwel ist der Dharma. Dharma wird übersetzt mit universales Gesetz oder Wirklichkeit und Lehre Buddhas. Der historische Buddha, Siddharta Gautama, hat, so berichten es die Aufzeichnungen, immer wieder betont, dass niemand seine Lehre glauben soll, sondern dass die Lehre auf eine Möglichkeit der Übung hinweist und das diese Übung zu Erfahrungen führen kann und diesen eigenen Erfahrungen kann ich trauen. Ich glaube aber nicht, bevor ich es nicht selbst erfahren habe.
Das zweite Juwel, das meine Dankbarkeitsübung unterstützt, ist also die Anerkennung meiner empirischen Entwicklung.
Das dritte Juwel ist die Sangha, die Gemeinschaft jener, die den Weg mit uns gehen. Auch alle, die den Weg der Übung vor uns gegangen sind und alle, die ihn noch gehen werden. Sie sind Zeugen, dass die Übung zu Erfahrungen führen kann, die wir mit Erwachen bezeichnen. Dieses Erwachen ist eine Erfahrung und die Sangha unterstützt mich dankenswerterweise darin, diese Erfahrung zu verstehen und ihr zu trauen. Die Sangha kann auch verstanden werden als alle Wesen. Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer Zen Meister sagt: „Wovon wir erwachen können, ist von der Illusion des Getrenntseins.“ Gemeint ist die unauftrennbare Wirklichkeit, deren integrierter Bestandteil wir sind und von der wir niemals getrennt auftreten können. Dieses dritte Juwel unterstützt meine Dankbarkeitsübung durch Kooperationsgewinne.
„Wir sind nicht dankbar,
wenn wir glücklich sind;
es ist die Dankbarkeit,
die uns glücklich macht.“
Benediktiner- Pater und Zen Lehrer David Steindl Rast.
Aus der Theorie der Gewaltfreien Kommunikation, wie sie von M. B. Rosenberg entwickelt wurde, wissen wir, dass das Gefühl von Dankbarkeit entsteht, wenn Bedürfnisse erfüllt oder besser gesagt genährt werden. Gehen Sie bitte noch einmal zu der Erinnerung von vorhin, in diese Situation, in der sie dankbar waren. Bleiben Sie bei dem Gefühl, das durch die Erinnerung jetzt hervorgerufen wird. Wir erforschen so unsere Fähigkeit, Dankbarkeit zu entwickeln und zu pflegen.
Im Zen sprechen wir vom Studium des Selbst durchaus mit einem ironischen Lächeln über uns, denn das Selbst ist natürlich nur eine Konstruktion unseres eigenen Geistes. Wir erkennen in diesem Studium, dass das Selbst in seinem Kern leer ist.
Die für mich schönste Definition von Zen stammt von Dogen, einem Zen Meister der 1200 in Kyoto geboren wurde. Sie lautet:
Wenn wir uns selbst und andere so annehmen können, wie wir uns gerade jetzt vorfinden, werden wir mit Leichtigkeit belohnt. Wenn das Ich kleiner wird und das Wir mehr Raum einnimmt, erleben wir Dankbarkeit und damit Glück. Furcht und Ablehnung verschwinden aus unserer Wirklichkeit. Wenn wir aus Furcht handeln, fehlt es uns an Vertrauen in die Realität. Dankbarkeit setzt voraus, dass wir den Mut aufbringen und darauf vertrauen, dass wir nicht aus unserer Wirklichkeit heraus fallen können. Vor einem christlichen Hintergrund würde man vielleicht sagen: „Wir können nicht aus Gottes Hand fallen.“
Wir täuschen uns, wenn wir uns unter Dankbarkeit einen Zustand vorstellen, der erreicht ist, wenn das eingetreten ist, was wir uns gewünscht haben. Dankbarkeit ist der Zustand innerer Freude; sie ist nicht abhängig von äußeren Faktoren oder Ressourcen, die uns über das normale Maß hinaus zur Verfügung stehen. Sie ist nicht das Erreichen von etwas, sondern die Feier dessen was ist. Der Frieden und die Freude, die entstehen, wenn wir die Wirklichkeit erleben, ohne etwas von ihr zu wollen. Frieden bedeutet hier nicht das Erreichen eines bestimmten Zustandes, sondern das Aufhören bestimmter Wünsche, die sich in unheilvollen Zuständen zur Gier steigern.
Dieser Seinszustand oder dieses Bewusstsein hat viele Namen: Frieden, Zufriedenheit, Dankbarkeit, Liebe. Er entsteht nicht und ist nicht herzustellen. Er ist immer da und es braucht eine gewisse Fokussierung, ihn wahrzunehmen. Wenn wir dieses Bewusstsein erleben, dann sind wir dankbar, weil Dankbarkeit ein Teil unseres Lebens ist, der sich ausbreitet und einen Unterschied macht, den wir nur dann erfahren, wenn wir es sind. In der Nikan Praxis einer Meditationsübung aus Japan beschäftigt sich der Übende wiederholt und über einen längeren Zeitraum mit drei Fragen:
Was haben bekannte und unbekannte Menschen oder auch andere fühlende Wesen für mich getan?
Was habe ich für diese Wesen getan?
Was für Schwierigkeiten habe ich meinen Mitmenschen bereitet?
Diese Übung ist geeignet, in mir eine tiefe Dankbarkeit und Demut entstehen zu lassen. Sie wird häufig in Gefängnissen eingesetzt und hat hier hervorragende Resultate.
In unserem Bewusstsein werden immer wieder Gefühle auftauchen, die es uns schwer erscheinen lassen, präsent zu bleiben. Unser Ego neigt dazu, das Angenehme festhalten zu wollen und das Unangenehme zu meiden. Dies führt weg aus der gegenwärtigen Wirklichkeit. Das bedeutet aber nicht, dass wir üben, Gefühle zu unterdrücken oder gefühllos zu werden. Wer keine Gefühle wie Schmerz, Trauer oder Freude und Dankbarkeit erlebt, ist nicht erleuchtet, sondern geisteskrank. Solange wir einen Körper und einen Geist haben, werden sie mit Gefühlen auf die Wirklichkeit reagieren, d.h. auf alles, was im Bewusstsein auftaucht.
Dass angenehme und unangenehme Dinge im Bewusstsein auftauchen können, liegt daran, dass das Bewusstsein selbst leer ist. Diese Leere ist unsere wahre Natur. In ihr kann uns alles gleichgültig erscheinen. Schmerz ist nicht die Verneinung von Freude und Dankbarkeit nicht die Abwesenheit von Trauer. Es gibt im leeren Bewusstsein keinen Konflikt zwischen Gefühlen. Es ist unser Geist, der ablehnt oder haben will.
Mit Dankbarkeit meine ich nicht die normale Höflichkeit, mit der man sich bedankt, wenn man etwas bekommt. Wenn wir sagen: „Dankbarkeit macht uns glücklich, darum sollten wir immer dankbar sein, dann sind wir immer glücklich“, machen wir aus der Erfahrung „Dankbarkeit“ einen moralischen Begriff „Dankbarkeit“, den wir aber nicht erleben, nicht erfahren können. Durch die Schaffung des moralischen Begriffes verabschieden wir uns aus der erlebbaren Wirklichkeit in die Welt der Interpretationen. Wir verkommen zu emotionalen Mathematikern. Wir versuchen, unser Glück zu errechnen. Wir können leicht erkennen wie absurd die Forderung "Sei immer dankbar, dann bist du immer glücklich." ist. Denn wären wir immer glücklich, wofür sollten wir dann dankbar sein? Wir müssten einen Großteil unserer Wirklichkeit leugnen, z.B. unsere Verletzlichkeit, unsere Begrenztheit, unsere Schmerzen, die doch wesentliche Elemente unserer Menschlichkeit sind. Ohne unsere Verletzlichkeit wären wir Maschinen und Maschinen können nicht dankbar sein.
Wir sind in unserem Alltag häufig der Meinung, wir müssten die Wirklichkeit verbessern. Unser Autopilot ist dann auf Fehlersuche und Mangel eingestellt. Wir scannen die Wirklichkeit ab mit der Fragestellung: Wie können wir dankbarer, liebevoller, klüger, weiser, spiritueller werden? Wenn wir Dankbarkeit empfinden, reicht es uns nicht aus, einfach nur dankbar zu sein; wir wollen damit auch unser Glück optimieren. Wir wollen wissen, wo der Weg zur Dankbarkeit ist und ihn effektiv gehen. Wir glauben, dass wir durch die Analyse der Dankbarkeit die Bedingungen herausfinden, um perfekte Musterschüler im Fach Dankbarkeit sein zu können. Insofern ist Zen immer eine Enttäuschung. Wenn wir Zen praktizieren, können wir erfahren, dass die Wirklichkeit es nicht nötig hat perfekt zu sein; sie ist immer schon vollkommen so wie sie ist. Wir weigern uns lediglich mit unserem Verweilen in der Vergangenheit oder dem Vorauseilen in die Zukunft, die Wirklichkeit anzuerkennen und uns einzugestehen, dass wir niemals an einem besseren Ort sein können als an dem, an dem wir uns gerade befinden, nämlich in der Gegenwart. Dass wir bereits alles haben, was wir brauchen und dass dieses Alles gegeben ist.
In dem wir über Verbesserungen nachdenken, sind wir nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft und in der Zukunft können wir weder handeln, noch entscheiden, noch dankbar sein. Zen will der Dankbarkeit keine besondere Bedeutung geben, es will keinen moralischen Begriff aus einer Erfahrung machen, sondern Dankbarkeit als Dankbarkeit wahrnehmen. Das geht nur, wenn ich mit meiner Präsenz im Jetzt bin. Dann kann ich erleben, dass Dankbarkeit kommt und geht.
Dankbar leben heißt, sich dem Leben stellen, in diesem Augenblick. Daran zeigt sich auch, dass Dankbarkeit eine echte spirituelle Praxis ist, denn jede spirituelle Praxis will uns in das Jetzt führen, aus der Zeit heraus, aus dem Gefangensein in der Vergangenheit und aus der Vorwegnahme der Zukunft in das Jetzt. Denn wir sind nur im Jetzt – alles andere ist wie Traum.
Dankbarkeit als Übung führt uns radikal in das Jetzt, sie bezieht sich auf die Gelegenheit, die das Leben mir jetzt in diesem Augenblick anbietet. Ich erlebe die Fülle des Lebens, weil ich die unendlich vielen Möglichkeiten erkenne, die durch meine Entscheidungen zur Realität werden können.
Im Zen entwickeln wir Dankbarkeit, dieses satte, erheiternde und gleichzeitig demütige Gefühl, das wir durch Achtsamkeit in uns etablieren können als einen Gemütszustand, den wir lebendig in uns empfinden. Das ist etwas anderes als die Dankbarkeit, die ich spüre, wenn ich etwas von außen bekomme. Das Denken, dass ich etwas von außen bekomme, das mich dankbar und glücklich macht, führt leicht wieder in die Begehrlichkeit. Ich übertrage dem Außen die Verantwortung für meine Gefühle, ich entwickle Ansprüche, die nicht erfüllt werden und kreiere damit mein eigenes Leiden.
Im Zen ist Dankbarkeit ein Gemütszustand, den wir entwickeln, weil wir etwas loslassen oder losgelassen haben. Wir haben eine Übung der Dankbarkeit und sind mit dieser Übung und unserer Praxis mehr oder weniger weit gekommen. Dadurch haben wir es vielleicht geschafft, unsere Ansprüche an andere, an das Außen, weitgehend loszulassen und schaffen damit eine neue Qualität in unseren Beziehungen. Wir schaffen einen Ausgleich im Geben und Nehmen, der auf Freiwilligkeit und Freude beruht. Das Denken in den Kategorien von Schuld, Scham, Zwang und Verpflichtung verschwindet. Zum Glück kann unser Geist nicht Multitasking, d.h. wenn wir Dankbarkeit als Gemütszustand entwickelt und in uns etabliert haben, ist kein Platz mehr für Gier und Hass. Nach der buddhistischen Lehre zwei von drei Wurzeln allen Übels.
Diese Art der Dankbarkeit bezieht sich dann nicht mehr auf etwas, sondern ist einfach ein wahrnehmbarer Gemütszustand. Er ist in uns entstanden und richtet sich auf alles, was uns begegnet. Dieser Gemütszustand ist nicht zu verwechseln mit der Aufforderung, positiv zu denken oder einem gleichgültigen Hinnehmen von Leid, Ungerechtigkeit und Elend. Eine in mir entwickelte Dankbarkeit versetzt mich in die Lage, mich gegenüber der Wirklichkeit zu öffnen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sich mir gerade jetzt zeigen, und erst damit die Chance zu bekommen etwas zu verändern.
Aus dieser Art von Dankbarkeit ist das Begehren völlig entschwunden. Es fehlt ein Ich, ein Subjekt, und dieser Zustand ermöglicht es uns, uns wiederzufinden in allen Wesen und Dingen.
Ich bin ausgesprochen dankbar, dass du, Gottfried, mich vor fast zwei Jahren gebeten hast, heute hier einen Vortrag über Dankbarkeit im Zen zu halten. Ich hatte die große Freude über einen so langen Zeitraum immer mal wieder mein Bewusstsein auf Dankbarkeit zu fokussieren. Ich habe erfahren, dass Dankbarkeit gefördert wird durch Enthusiasmus, Freude und Demut.
In Dankbarkeit, Gassho, DaiHiDo (Kurt Südmersen)